Die Presse, 16.11.1996
Mehr und schneller lernen
zu wollen, stößt in Österreich häufig auf
Unverständnis
27. Oktober 1996: In der von Peter Rabl moderierten ORF-Sendung
"Zur Sache" wird über die Integration von behinderten
Kindern in Hauptschulen und Gymnasien diskutiert. Der Innsbrucker
Erziehungswissenschaftler Volker Schönwiese weist darauf
hin, dass nicht nur Behinderte, sondern auch hochbegabte Kinder
Probleme mit dem Regelunterricht haben. Beim Unterricht sollte
immer darauf Rücksicht genommen werden, dass mit allen Schülern
zwar die gleiche Sache behandelt, jedoch das verschiedene Niveau
und die verschiedene Intensität der Beschäftigung beachtet
wird. Als ob er die Probleme der aus einem anderen Grund zu Außenseitern
gestempelten Kinder nicht erwähnt hätte, nimmt keiner
der Gesprächsteilnehmer auch nur das Wort "hochbegabt"
in den Mund. Mit Ausnahme Peter Rabls, der beiläufig erwähnt,
dass Zuschauer über Internet und Fax immer wieder auf die
ähnlichen Probleme der Hochbegabten hinweisen.
19. bis 22. Oktober 1996: Im Wiener Palais Ferstel treffen sich
die weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Hochbegabtenforschung
und Hochbegabtenförderung zur "ECHA 96 Vienna".
Der European Council for High Ability organisiert alle vier Jahre
eine große Tagung. Auf Einladung des damaligen Unterrichtsministers
Erhard Busek sollte die 5. Tagung in Wien stattfinden. Und zwar
nicht im abgelegenen Konferenzzentrum, sondern mitten in der Stadt.
Die Anwesenheit von Howard Gardner aus Boston, Klaus Urban aus
Hannover, Franz Mönks aus Nijmegen, Erika Landau aus Tel
Aviv und vieler anderer Spezialisten sollte nicht unbemerkt an
uns vorbeigehen. Für die mit der Anwesenheit im 1. Bezirk
verbundene Aufmerksamkeit wollte man bewusst die schlechte technische
Ausstattung des Palais Ferstel in Kauf nehmen. Doch diese Rechnung
ging nicht auf: Bei keiner der vier bisher stattgefundenen Tagungen
war das Interesse der Gastgeber und Journalisten so gering wie
in Österreich.
Diese Chronologie der Ignoranz gegenüber den Problemen hochbegabter
Kinder ließe sich fast beliebig fortsetzen. Es vergeht kein
Tag, an dem ein Vater oder eine Mutter eines hochbegabten Kindes
nicht daran erinnert werden würde, dass sich diese Kinder
ohnehin von selbst durchsetzen werden. Und überhaupt, denken
sie doch an die benachteiligten Kinder, für diese muss sich
die Schule, muss sich unsere Gesellschaft besonders einsetzen.
Als ob das eine das andere ausschließen würde. Außerdem
sehen sich diese Kinder meist nicht als "Elite", die
auf Kosten der Schwachen bevorzugt werden will. Ganz im Gegenteil:
Es ist vielfach zu beobachten, dass diese Kinder nicht nur früher
in ganzen Sätzen sprechen und sich oft selbst das Lesen beibringen,
sondern auch auffallend viel Mitgefühl mit den Schwachen
zeigen. Aber bei der Fülle der Vorurteile besteht kaum eine
Chance, diese Qualität zu sehen. Der Abwehrreflex von "normal"
Begabten ist einfach zu groß. Aber was heißt schon
normal? Mit welchem Recht kann der Staat einem Kind vorschreiben,
dass es "normal" ist, mit sechs Jahren lesen und schreiben
zu lernen, wenn es das bereits mit vier oder aber erst mit acht
Jahren lernen will?
Anders sieht die Sache aus, wenn ein Kind ein zweiter Andi Goldberger
werden möchte und dazu einiges Talent mitbringt. Da sich
unser Land seit Jahrzehnten mehr über Goldmedaillen als über
Nobelpreise definiert, wird dieses Kind mit großer Unterstützung
rechnen können. Die Ski-Nation Österreich braucht Olympiasieger
und Weltmeister. Damit es mit dem Tourismus nicht (noch mehr)
bergab geht, ist der Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit,
Goldmedaillen zu erwerben, und der Idee, Talente auf diesem Gebiet
speziell zu fördern, offensichtlich und wird auch gar nicht
geleugnet. Sollte ein Kind jedoch nicht weiter als die anderen
springen, sondern einfach mehr und schneller lernen wollen, wird
es bei uns vor allem eines erfahren: Unverständnis.
Etwa drei bis fünf Prozent der Kinder jedes Jahrganges sind
hochbegabt. Diese Kinder beginnen früh in ganzen Sätzen
zu sprechen, fragen den Eltern Löcher in den Bauch, haben
eine ausgeprägte Phantasie und ein sehr gutes Gedächtnis.
Da sie sich bereits mit zwei oder drei Jahren gut ausdrücken
können, scheint ihre positive Entwicklung gesichert. Doch
genau das ist nicht der Fall. Es widerspricht dem "gesunden
Hausverstand", aber nicht wenige dieser Kinder bleiben sitzen
oder landen sogar in der Sonderschule. Wegen Unterforderung. Darüber
sind sich die Experten seit Jahren einig, und trotzdem geschieht
(fast) nichts. Denn (mit wenigen Ausnahmen) werden diese Erkenntnisse
einfach ignoriert. Nicht nur die Ministerin, auch kein einziger
Landesschulratspräsident oder Bildungssprecher der Parlamentsparteien
ist im Palais Ferstel vorbeigekommen, um sich aus erster Hand
zu informieren.
Andreas Maislinger